Liebe Mitglieder,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

was für ein Jahr liegt hinter uns! Lassen Sie mich angesichts der Größe der Ereignisse einmal nicht vorrangig auf unser Fach Russisch blicken, sondern auf das Bildungswesen im Allgemeinen. Und nein, keine Sorge, ich werde nicht noch einmal die einzelnen Stationen der Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen, Sorgen und Verluste aufzählen. Das ist an anderer Stelle häufig genug getan worden. Und sicherlich ist das auch ein wichtiger und berechtigter Bestandteil dessen, was wir zurzeit empfinden. Ich möchte stattdessen auf diejenigen Bereiche schauen, in denen wir besser geworden sind, darauf, was wir als einzelne Menschen oder auch zusammen als Gemeinschaft bewältigen mussten und gelernt haben, auf einige interessante Lehren aus diesem Jahr.

Neu denken. Im Laufe des zu Ende gehenden Jahres hat uns das sich rasch entfaltende Infektionsgeschehen immer wieder gezwungen, altbekannte Verfahrensweisen, oft auch liebgewonnene Gewohnheiten aufzugeben und nach neuen – pandemiekonformen – Lösungen zu suchen. In den meisten Fällen werden wir über kurz oder lang sicherlich wieder zu Altbewährtem zurückkehren. Es bleibt aber auch die Erfahrung, dass manche Dinge auf andere Weise erledigt werden können, ohne gleich Schiffbruch zu erleiden: Konferenzen, Meetings, Fortbildungen oder Elternabende brauchen nicht immer zwingend in Präsenz stattzufinden. Häufig erfüllt eine Online- oder auch eine Hybridveranstaltung den gleichen Zweck und hat ihre ganz eigenen Vorteile. Die schriftlichen Abiturprüfungen im Jahr 2020 haben keinen Abbruch dadurch erlitten, dass die Zweitkorrektur und die Endbeurteilung im Hause durchgeführt wurden. Gleiches gilt für die mündlichen Prüfungen. Auch hier blieb der Prüfungsvorsitz im eigenen Haus ohne Qualitätseinbuße.
Sehr vieles geht also auch anders, und die andere, neue Methode muss nicht grundsätzlich schlechter sein. Das Heraustreten aus dem alten Trott hat damit auch Verkrustungen aufgebrochen und Beweglichkeit im Denken gebracht, die ich als durchaus erfrischend empfinde.

Flexibilität (ertragen) lernen und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Ein angrenzendes Thema, aber durchaus kein einfaches. In diesem Jahr gab es immer wieder Phasen, in denen wir auf Sicht fahren mussten und nicht langfristig vorausplanen konnten. Politische Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene und Entwicklungen im Infektionsgeschehen haben sich so rasch entfaltet, dass manches Mal kaum ein Wochenende Zeit zur Verfügung stand, um eine neue Verordnung oder neue Hygienemaßnahmen in die Praxis zu übertragen. Dieses rasche Handeln und das sich rasche Einstellen auf neue Gegebenheiten kosten Kraft und gute Nerven auf allen Seiten – auf Seiten der Eltern, auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, aber auch auf Seiten der Lehrerschaft. So mussten z.B. Klassenarbeiten und Klausuren verschoben werden oder entfielen in Gänze, Exkursionen wurden geplant, um abgesagt zu werden und aus Präsenzunterricht wurde über Nacht Fernunterricht.
Zudem ließ es die dynamische Entwicklung der Pandemie nicht zu, verlässliche Aussagen über die Situation in den kommenden Wochen, geschweige denn in den kommenden Monaten zu machen. Dabei ist eine langfristige Planung für den Schulbetrieb grundsätzlich unerlässlich, gewährleistet eine hohe Qualität und gibt allen am Schulleben Beteiligten Sicherheit und Verlässlichkeit. Das wollen wir nicht missen.
Dennoch haben wir in einem gewissen Maße auch erleben können: Was kann nicht alles gerade auch kurzfristig erledigt werden, wenn das wirklich Wesentliche in den Fokus gestellt und mit einer gewissen Gelassenheit agiert wird! Häufig erstarren wir geradezu im Anspruch auf genaueste Planung, perfekte Form und Perfektion ganz allgemein und verlieren dabei den Sinn für das wirklich Wichtige. Durch die Unberechenbarkeit und Kurzfristigkeit der Ereignissen sind wir gezwungen, Nebensächliches beiseite zu lassen und uns auf das Wichtige zu konzentrieren, denn nur so kann die Arbeit erledigt werden. Und das haben wir doch im Großen und Ganzen gut bewältigt.

Den Stellenwert der Bildung und der Schulen erkennen. Seit wieviel Jahren wurde in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion nicht immer wieder betont, dass das Bildungssystem und die Schulen für Deutschland von zentraler Bedeutung sind! Bildung sei der einzige Rohstoff, über den Deutschland verfüge. Allein der Erkenntnis bzw. den Bekenntnissen folgten wenig spürbare Taten. Es blieb bei einer theoretischen Gutwetterdebatte, an die wir uns bereits gewöhnt hatten. Zur gleichen Zeit fielen die Vergleiche mit dem Ausland häufig ernüchternd aus: Andere Länder wenden z.B. einen deutlich höheren Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Bildung auf, die Wertschätzung für Bildung und das Lehrpersonal ist in vielen anderen Ländern merklich höher, und die Leistungen des deutschen Bildungssystems sind im internationalen Vergleich zurückgefallen.
Im Jahr 2020 ist jedoch Schwung in die Debatte gekommen. Es wurde deutlich, dass funktionierende Schulen und Kitas eine essentielle Grundlage für die Gesellschaft und die Wirtschaft in Deutschland sind. Die wirtschaftlichen Folgen bei Schulschließungen sind dabei sofort sichtbar. Sind Schulen und Kitas ganz oder teilweise geschlossen, können zahlreiche Menschen ihrer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen und haben gegebenenfalls drastische finanzielle Einbußen. Wichtige Dienstleistungen können nicht mehr angeboten werden. Ich denke auch an Dienstleistungen, die Maßnahmen darstellen, die für die Erhaltung der Gesundheit unerlässlich sind.
Geschlossene Schulen haben aber auch Auswirkungen, die auf den ersten Blick nicht gleich zu sehen sind: Es kann zu sozialer Vereinsamung kommen, zu Depressionen, zu einer verlangsamten Entwicklung der kindlichen bzw. jugendlichen Psyche und zu vermehrter häuslicher Gewalt. Auch diese Aspekte sind in der Gesellschaft mittlerweile unumstritten.
Die Arbeit der Schulen hat auf diese Weise eine neue Wertschätzung erhalten. Ihr wird mehr Beachtung geschenkt. Unsere Schülerinnen und Schüler sind nach den Schulschließungen im Frühling zum großen Teil sehr gerne in die Schule gegangen und zwar nicht nur, um Freunde wiederzusehen. Viele von ihnen haben Freude empfunden, wieder etwas von ihren gut ausgebildeten und kompetenten Lehrkräften lernen zu dürfen.
Schulen und Kitas sind keine "Verwahranstalten", damit die Wirtschaft funktionieren kann. Es sind auch keine Anstalten, in denen man Bildung wie eine Dienstleistung erhält. Schulen sind stattdessen Orte für gesunde menschliche Entwicklung und dringend benötigte Bildung für eine zukunftsfähige Gesellschaft.
Die theoretische Erkenntnis der vergangenen Jahre ist in diesem Jahr eine erlebte Erkenntnis geworden. Und das kann dem täglichen Schulbetrieb nur zugute kommen.

Zudem zeigte sich auch, dass dringend notwendige Investitionen in die Schulen und das Bildungssystem nicht weiter aufgeschoben werden können. Das ist aber schon mein nächster Punkt.

Digitalen Fortschritt anpacken. Der Digitalpakt der Bundesregierung wurde durch die Corona-Pandemie in der Umsetzung beschleunigt, und es wurde ein Zusatzprogramm für die Ausstattung von Schülerinnen und Schülern mit Endgeräten auf den Weg gebracht, um Familien mit Bedarf im Fernunterricht zu unterstützen. Ein weiteres Zusatzprogramm soll in Zukunft nun auch Lehrkräfte mit Laptops oder Tablets ausstatten. Und schließlich hat das Land Baden-Württemberg noch ein Programm aufgelegt, das die Schulen im Bereich Digitalisierung und Lufthygiene unterstützen soll. 40 Millionen Euro wurden zur Verfügung gestellt – eine stolze Summe.
Es blieb auf dem Feld der Digitalisierung und des digitalen Lernens aber nicht allein bei großzügigen finanziellen Zuwendungen: Die Schulen haben sich auf den Weg gemacht, neue Unterrichts- und Veranstaltungsformate zu erproben. Es gab Online-Unterricht, Videokonferenzen und Unterrichtsstunden per BigBlueButton oder über andere Plattformen, Elternabende als Hybridveranstaltung und die zunehmende Ausgestaltung des schuleigenen Moodle. Das Ein oder Andere wird noch folgen. Sicherlich war die Praxis nicht immer befriedigend und konnte es ohne die nötigen Erfahrungen und Kenntnisse auch gar nicht sein. Die Schulgemeinschaften haben aber allerorts immense Lernanstrengungen unternommen, sich sozusagen in der Praxis fortgebildet und sind auf dem Feld des Fernunterrichts einen großen Schritt vorangekommen.
Wer hätte es vor kurzem für möglich gehalten, dass wir innerhalb kürzester Zeit so weit kommen? Die Pandemie hat den Anstoß gegeben, etwas längst Fälliges in die Praxis der Schulen hereinzuholen. Der Bund, die Länder und die Schulen haben jeweils auf ihre Weise den Impuls aufgegriffen und werden an dem Thema weiterarbeiten. Das schon jetzt Erreichte ist ein großartiger Erfolg!


Dies sind die Dinge, die mir als "Errungenschaften" des auslaufenden Jahres in den Sinn gekommen sind. Ihnen werden weitere positive Aspekte einfallen. Das Jahr 2020 hat uns ganz heftig durchgerüttelt, aber ungeachtet all der Entbehrungen und Verluste hat es sowohl jeden einzelnen von uns als auch die ganze Gesellschaft auf zahlreichen Feldern vorangebracht. Das ist es wohl, was man meint, wenn man sagt: "In jeder Krise liegt auch eine Chance."

Im neuen Jahr wird es nun darum gehen, das Fach Russisch an der eigenen Schule nötigenfalls zu konsolidieren und gegebenenfalls zeitweilige Beschränkungen für den Russischunterricht nicht zum Dauerzustand werden zu lassen. Es wird unser aller Bestreben sein, Russisch nach der Pandemie auf mindestens den gleichen Stand an den Schulen in Baden-Württemberg zu bringen, auf dem es vor Corona war. Das wird nicht einfach sein und viel Einsatz von allen Russischlehrkräften erfordern. Daran führt aber kein Weg vorbei, denn unsere gemeinsame Sache wird auch in den kommenden Jahren wichtig und gut sein.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Nächsten ein gesundes und glückliches Jahr 2021.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Daniel Krüger