– Gastbetrag von Dirk Lundberg in den BNN am Samstag, den 28.09.2024 –
Der Karlsruher Lehrer Dirk Lundberg findet, Sprache sollte sensibler sein
Noch in den 1980er Jahren – Jahzehnte nach dem Ende des Zweit Weltkrieges – war die Wendung „die Russen kommen“ auch jüngeren Meschen vertraut. Die Vorurteile und die Ang vor „den Russen“ blieben im Kalten Krieg präsent. Erst mit der Öffnung der Sowjetunion in der Ära des Präsidenten Michail Gorbatschow begann ein langsamer Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung.
Als Geschichtslehrer fühle ich mich in besonderer Weise der Völkerverständigung zwischen Deutschland und Russland verpflichtet. Seit 25 Jahren versuche ich, mit Projekten und Schüleraustausch junge Menschen aus Deutschland und Russland zusammenzubringen und damit zur Versöhnung zwischen beiden Völkern beizutragen.
Seit dem Angriffskrieg des Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine ist diese Aufgabe besonders schwierig, aber nicht weniger wichtig. Denn es wird eine Zeit nach dem Krieg geben, in der Hass und Vorurteile mühsam abgebaut werden müssen – eine Aufgabe für Generationen.
Als Russisch-Lehrer ist es mir wichtig, sehr genau zwischen den Kriegstreibern um Putin und „den Russen“ zu unterscheiden. Warum? Ich möchte die russischsprachigen Familien in Deutschland, die sich Russland in besonderer Weise verbunden fühlen, und in denen Putins Narrativ über die Ukraine zum Teil auf Verständnis stößt, nicht an die AfD verlieren.
Ich möchte, dass junge Menschen nicht unkritisch Putins Erzählung folgen, auch wenn sie über russische Social-Media-Kanäle und das russische Staatsfernsehen ununterbrochen verbreitet wird. Es geht mir darum, dass Schüler begreifen, dass die freie Meinungsbildung in einer offenen Gesellschaft ein hohes Gut darstellt, für das wir uns einsetzen sollten. Dass wir uns einmischen können, ohne Angst haben zu müssen.
Deshalb wandte sich mein Geschichtskurs im Juni dieses Jahres in einem offenen Brief an Marietta Slomka, Chefmoderatorin des „heute journal“ im ZDF. Zuvor hatten wir Ausschnitte der Sendung analysiert. Uns fiel auf, dass dort pauschal von „den Russen“ gesprochen wurde, auch wenn es um militärische Angriffe oder um Kriegsverbrechen ging. Zum Beispiel: „Die Russen foltern und töten gezielt Vertreter der ukrainischen Intelligenzija".
Wir erklärten in dem Brief, dass solche verallgemeinernden Äußerungen Vorurteile gegenüber allen Russen verstärken und die Gefühle zahlreicher russlanddeutscher Mitbürger verletzen. In Deutschland leben über 2,5 Millionen Menschen mit russischsprachigem Hintergrund, die meisten von ihnen konnten Ende der 1980er Jahre aus der UdSSR und später aus ihren Nachfolgestaaten in die Bundesrepublik auswandern. In meinen Klassen haben zahlreiche Schülerinnen und Schüler solch einen Hintergrund. Wir baten also die ZDF-Redaktion darum, pauschalisierende Formulierungen über „die Russen“ zu vermeiden und die Akteure klar zu benennen. Außerdem baten wir um eine Rückmeldung.
Meine Hoffnung dabei war: Junge Menschen treten in einen inhaltlichen Diskurs mit einem öffentlich-rechtlichen Sender, dessen Auftrag unter anderem in der Stärkung unserer Demokratie besteht. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich ernst genommen und erreichen bestenfalls, dass pauschalisierende Äußerungen künftig vermieden werden.
Sie vergleichen außerdem kritisch diesen Austausch mit der Realität im heutigen Russland: Könnten russische Schulklassen mit ihrem Lehrer gefahrlos Kritik an den staatlichen russischen Medien üben? Könnten sie kritisieren, dass pauschalisierend „die Ukrainer“ und „der Westen" für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden? Die Antwort lautet wohl: „Nein".

Öffentliche Kritik von russischen Schulklassen an den staatlichen Medien in dem autoritär regierten Land wäre für alle Beteiligten gefährlich und würde von Schulleiterinnen und Lehrern nicht unterstützt – ganz im Gegensatz zu der Möglichkeit der freien Meinungsäußerung in unserer liberalen Demokratie.
Der offene Brief sollte aber noch mehr bewirken: Auch die Eltern der russischsprachigen Schülerinnen und Schüler können spüren, dass in der Schule nicht – wie häufig behauptet – eindimensional geurteilt wird. Und dass auch ihr persönliches Schicksal und ihre Identität als „Russen“, „Russlanddeutsche“ oder „Deutsche mit russischem Hintergrund“ wahrgenommen werden.
Die Reaktion auf unseren offenen Brief war zunächst enttäuschend. Es hieß, die Moderatorin habe keine Zeit zum Antworten. Also bat ich die ZDF-Redaktion explizit: „Helfen Sie mir, junge Menschen in ihrem Engagement für die Demokratie zu stärken, anstatt sie mit freundlichen Worten abzuwimmeln. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung." Erfreulicherweise wurde unserem Anliegen am Ende mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
"Wir können uns einmischen, ohne Angst haben zu müssen."
Dirk Lundberg, Lehrer Kant-Gymnasium in Karlsruhe
Das Wahlverhalten junger Menschen irritiert und verstört nicht erst seit den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Die AfD ist mittlerweile bei jungen Menschen die stärkste Partei. Wenn wir es ernst meinen mit dem Kampf für unsere freiheitliche Grundordnung, dürfen wir die Verantwortung für Demokratieerziehung nicht allein den Schulen überlassen.
Junge Menschen in ihren Anliegen ernstzunehmen – das wünsche ich mir in Zukunft von allen gesellschaftlichen Akteuren – aber besonders von den öffentlich-rechtlichen Sendern. Übrigens werden beim „heute journal“ inzwischen pauschalisierende Äußerungen zu „den Russen“ nach unserem Eindruck vermieden.
Ich hoffe und wünsche mir, dass die Schüler dadurch verstanden haben, dass sie selbst etwas bewirken können, wenn sie sich einmischen. Und dass es sich lohnt, für unsere freiheitliche Demokratie zu kämpfen. Auch außerhalb der Schule.
Artikel vom 28.09.2024 in der BNN zum Download